Heimat als kulinarisches Gesamterlebnis

Der mit der Natur tanzt

Vitus Winkler gehört mit seinen 36 Jahren zu den Stars der österreichischen Küche. Sein großes Wissen um die Schätze aus der Natur macht seine Küche gleichermaßen bodenständig und gehoben, raffiniert und traditionell

Vitus Winkler, Inhaber und Küchenchef Hotel Sonnenhof

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Heimat als kulinarisches Gesamterlebnis – kaum ein Koch setzt dieses Konzept so konsequent um wie Vitus Winkler. Der 37jährige gilt als einer der spannendsten Köche der alpinen Avantgarde. Im Hotel Sonnhof in österreichischen St. Veit in Pongau bringt er die Salzburger Natur auf die Teller und erzählt mit seinen Kreationen Geschichten voller Poesie. Im Herbst 2019 erkochte er für das Restaurant Vitus Cooking die vierte Haube im Gault&Millau und brachte sein zweites Kochbuch heraus. Die Küche mit ihren Töpfen und Pfannen war von klein auf sein Universum. Schon als Kleinkind trug ihn seine Mutter auf dem Rücken, während sie am Herd stand. Nach dem Besuch der Hotelfachschule in Bad Hofgastein arbeitete er in Spitzenküchen, bevor er als 24jährig zurück nach St. Veit kam und zusammen mit seiner Mutter die zweite Haube für das Sonnhof-Restaurant erkochte. Als 29jähriger übernahm er den Betrieb und führt den Sonnhof mit Ehefrau Eva-Marie in nunmehr vierter Generation.

Vitus Winkler ist der Poet der alpinen Koch-Avantgarde in Österreich. Heimische Kräuter sind die aromatischen Protagonisten seiner Küche. Inzwischen kocht er ausschließlich mit Lebensmitteln, die im Mikrokosmos des Salzburger Landes gedeihen. Den Schlüssel für seinen besonderen Kochstil fand er direkt vor der Haustür des Familienhotels Sonnhof. Es sind vor allem Kräuter, die seine Küche prägen, über hundert an der Zahl. Er findet sie nicht nur im eigenen Garten, sondern vor allem auf ausgedehnten Wanderungen, die er allein oder auch mit Mitarbeitern und Gästen unternimmt. Was in den Sammelkorb kommt? Mädesüß, zum Beispiel, ideal zum Verfeinern von Salat oder gegen Kopfschmerzen. Wiesenknopf, dessen rohe grüne Stängel erfrischend schmecken. Oder Frauenmantel, ein großartiger Aromenspender für Rührei oder Gemüsebrühe. Im Korb landen aber nicht nur Kräuter, sondern auch andere Zutaten für seine Küche: Pilze, Vogelbeeren, Wachholder, ja, sogar Flechten. „Mit diesen Zutaten ist jedes Gericht immer wieder neu“, sagt Vitus Winkler. „Es entwickelt seine ganze Kraft und verrät individuell sein Geheimnis von Wildnis, den wahren Duft von Freiheit.“

Als Vorbilder nennt Vitus Winkler den französischen Spitzenkoch Sebastien Bras, der Blumen und Blüten zu seinen Küchenfavoriten zählt. Auch Drei-Sterne-Koch Alain Passard, der seine Küche einmal als „Schule der fünf Sinne“ beschrieb, hat ihn beeinflusst. Die eigene Handschrift erklärt Vitus Winkler wie ein Dichter: „Ich übersetze meine Erlebnisse in der Natur in eine bildhafte Geschmackssprache. Der einzelne Busch, der jenseits der Baumgrenze den Stürmen trotzt, den interpretiere ich auch auf dem Teller.“ Das kleine Kraut auf der glatten Oberfläche eines Fleischstücks steht gewissermaßen stellvertretend für die Poesie der Pongauer Landschaft.

Die Entstehung des Gerichts „Phönix aus der Asche“ ist vom Lebensraum an der Baumgrenze der alpinen Landschaft inspiriert. In glühender Kohle wird eine rote Zwiebel in einem schwarzen Teig aus Tannenasche stundenlang gebacken. Der Gast wird später die harte schwarze Kugel aufschlagen, um an das saftige, aromatische Innere zu gelangen. Ein Akt, der an einem harten Schlag in den Felsen erinnern soll, an splitternde Erdkruste, an rohe Naturgewalt, erläutert der Koch. Jedes seiner Gerichte ist eine Liebeserklärung an die eigene Heimat. So beispielsweise auch die Kreation „Herzschlag“ – im Mittelpunkt steht die Zirbelkiefer, mit deren Holz die alten Pongauer Gaststuben ausgekleidet sind. Das Gericht besteht aus Zutaten wie unter anderem Rehherz, Rote Bete, Blutampfer und Hirtentäschelkraut, die von einem Tee aus Zirbenholzspänen gekrönt werden.

Innereien spielen in der Küche von Vitus Winkler eine große Rolle. Das Nose-to-Tail-Verarbeitungsprinzip ist ihm ebenso wichtig, wie die Bewahrung kulinarischer Traditionen. Ein Gericht, das noch heute im Sonnhof auf den Tisch kommt, stammt aus seiner Kindheit, als Vitus Winkler mit seinem Großvater auf die Jagd ging und die Leber des erlegten Rehs noch in der Jagdhütte mit klein gehackten Zwiebeln zubereitet wurde. Vitus Winkler schätzt die Zutaten und Gerichte seiner Heimat, interpretiert sie aber immer wieder neu. Seine Lieferanten kennt er alle persönlich. Den Metzger Max Mann aus dem eigenen Dorf, der vom Aussterben bedrohte alte Schweinerassen züchtet, ebenso wie Walter Grüll, der im nahen Grödig den einzigen Störkaviar in ganz Österreich produziert. Seesaibling, Karpfen und Forellen aus heimischer Zucht, Wild aus den umliegenden Gebirgszügen, Tauernlamm, Lungauer Eachtling-Kartoffeln, Mehl aus der Lerchenmühle in Kuchl, Schafmilch vom biozertifizierten Stoffengut, Gemüse aus der Nationalpark-Gärtner im nahen Stuhlfelden: Die Bandbreite an regionalen Spezialitäten, mit denen Vitus Winkler seine kulinarischen Heimatgeschichten in wahlweise vier- oder sieben Menügängen erzählt, ist groß.

Regionalität, Nachhaltigkeit und Qualität sind für Vitus Winkler Mittelpunkt seiner täglichen Arbeit. „Lebensmittel haben viele Werte und nicht nur einen Preis“, bekräftigt er. Der 37jährige sucht unermüdlich nach den besten Zutaten für seine Küche und experimentiert mit Kontrasten, Temperaturen und Texturen. „Ich möchte mit der Kommunikation des Kochtopfs die Menschen dafür sensibilisieren, dass die Reichtümer der Natur nur dann erhalten bleiben, wenn wir uns mit Leidenschaft für sie einsetzen“, sagt Vitus Winkler – der aus dem Salzburger Land ist nicht nur ein spannender Koch, sondern auch ein kulinarischer Storyteller mit Mission.

Interview: Cornelia Liederbach
Fotos: © Mario Stockhausen