Paul Ivić

Ein Koch mit Mission

Nachhaltigkeit ist für TIAN-Küchenchef Paul Ivić kein Lippenbekenntnis, sondern ein täglich gelebtes kulinarisches Prinzip. In seinem vegetarischen Sterne-Restaurant in Wien verarbeitet er fair und biologisch erzeugte Produkte von der Wurzel bis zum Blatt zu raffinierten Gerichten

TIAN-Küchenchef Paul Ivić

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Paul Ivić ist Koch und fordert mehr Respekt für Lebensmittel und kritisiert ihre Verschwendung. Engagiert tritt er den Auswüchsen der Konsumgesellschaft auf Kosten von Natur und Tierwelt entgegen. Mit seiner kompromisslosen Leaf-to-Root-Philosophie revolutioniert er die vegetarische Küche. Er verarbeitet im TIAN Restaurant in Wien, was viele seiner Kollegen achtlos wegwerfen. Das Restaurant ist seit 2014 das einzige vegetarische Restaurant in Österreich mit einem Michelin-Stern und eines von fünf weltweit. Wer ist der Mann hinter dem TIAN Konzept, der sogar Erbsenschalen zu einem kulinarischen Highlight macht, aber selbst kein Vegetarier ist?

Paul Ivić wurde 1978 in Serfaus in den Tiroler Alpen geboren. Seine kulinarische Reise begann, als er mit 14 Jahren nicht mehr zur Schule gehen wollte und seine Schwester ihm vorschlug, Koch zu werden. Nach der Ausbildung arbeitete er in der Spitzengastronomie in Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Ich hatte gute, aber strenge Chefs. Lebensmittel wegzuwerfen war ein No-go“, berichtet der Tiroler mit kroatischen Wurzeln. Auch seine Eltern und Großeltern, die sehr sparsam lebten und gar nichts zum Wegwerfen hatten, haben ihn geprägt. „Von ihnen lernte ich, dass die besten Rezepte nicht aus dem Überfluss entstehen, sondern aus der Beschränktheit“, sagt Paul Ivić und weist darauf hin, dass Nose-to-Tail bzw. Leaf-to-Root eigentlich keine neuen Trends in der Küche sind, sondern früher Standard waren. Gleiches gelte für die Fermentation, eine uralte Konservierungstechnik, die in einer Zeit entstand, als Lebensmittel knapp und kostbar waren.

Beschränkung macht kreativ(er)

Auch Paul Ivić hatte eine Phase als Koch, in der Nachhaltigkeit kaum eine Rolle spielte. Alles änderte sich, als er Ende 2011 Küchenchef und Geschäftsführer des neuen vegetarischen TIAN Restaurant in Wien wurde. Auf der Suche nach guten Einkaufsquellen stieß er auf kleine, im Einklang mit der Natur arbeitende Erzeuger und lernte Wertschätzung für die mühsam produzierten Lebensmittel. Er verinnerlichte: Die Qualität von Gemüse beginnt bei der Bodenbeschaffenheit, und gutes Fleisch basiert auf der Gesundheit des Tieres. Fazit: „Wir Köche sollten unsere Aufgabe nicht nur darin sehen, Essen zu servieren. Wir sollten Verantwortung für das übernehmen, was wir auf die Teller bringen.“

TIAN – Paul Ivić und sein Team

Paul Ivić arbeitet heute mit vielen Lieferanten zusammen, die die gleiche Philosophie verfolgen wie er – Top-Qualität und Nachhaltigkeit. Produzenten, die wissen, dass der beste Geschmack nur mit den besten Produkten gelingt, die ohne Einsatz von Herbiziden, Pestiziden, Antibiotika, Hormonen und ohne Genmanipulation erzeugt wurden. Einer seiner Lieferanten ist beispielsweise Robert Brodnjak von „Krautwerk“ bei Wien, der historische Gemüsesorten anbaut. Der Koch und der Landwirt arbeiten gemeinsam daran, den richtigen Zeitpunkt für die Ernte zu finden und die Veränderung des Geschmacks der Pflanzen über die Jahreszeiten zu erfassen.

Kindheitserinnerung auf dem Teller

Bei der Entwicklung seiner Gerichte fürs TIAN Restaurant lässt sich Paul Ivić von Menschen, Situationen und Landschaften inspirieren. So basiert beispielsweise das Gericht „Favabohne“ auf einer besonderen Kindheitserinnerung an eine Zeit, als seine Großmutter im ihrem Garten Bohnen anbaute und im Sommer erntete, während der kleine Paul mit seinem Großvater durch die umliegenden Wälder streifte. „Die erdigen Aromen, den Duft und den Geschmack von Holz wollte ich in diesem Gericht nachahmen.“

Das TIAN ist inzwischen Teil einer Gruppe. Neben dem ersten Restaurant in Wien gibt es seit 2015 das TIAN Bistro am Spittelberg in Wien sowie das TIAN Restaurant in München. „Das TIAN ist mehr als ein Restaurant, das sich auf vegetarische Küche reduziert“, sagt Paul Ivić .  Es ist Teil seiner Lebenseinstellung und seines Verständnisses als Koch. „Essen zubereiten bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen für alle Rohstoffe und die hart arbeitenden Menschen, die dahinter stecken.“ Die Verarbeitung der gesamten Pflanze – von der Wurzel bis zum Blatt – ist für Paul Ivić Ausdruck dieser Verantwortung.

Interview

Abfall vermeiden macht uns glücklich

Paul Ivić, Küchenchef und Geschäftsführer der TIAN Restaurants, über Beschränkung als Inspirationsquelle, den Weg zur abfallfreien Küche und die Notwendigkeit eines Umdenkens in der Spitzengastronomie.

TIAN-Küchenchef Paul Ivić @work

Herr Ivić, in Ihrem neuen Buch „Restlos glücklich“ geht es darum, Lebensmittelverschwendung in der Küche zu vermeiden. Macht Abfallvermeidung glücklich?

Ivić: Ja, wir sind glücklich mit unserer Art des Arbeitens. Die achtsame Konzentration auf das ganze Produkt ist eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Doch man braucht Talent dazu und Mitarbeiter, die sich in diese Richtung entwickeln wollen. Allein das Ziel, Abfall zu vermeiden, reicht nicht. Man muss sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen und handeln. In vielen Profiküchen werden Lebensmittelpackungen, ohne sie zu öffnen und erst einmal zu probieren, einfach weggeworfen, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Das ist eine bedauerliche Fehlentwicklung!

Welche Lebensmittelreste landen in Ihrer Küche noch im Müll?

Ivić: Wer kocht, sollte eine Portion Demut vor Lebensmitteln mitbringen. Wir versuchen im TIAN, alle Pflanzen restlos zu verarbeiten, sofern es irgendwie geht. Das zwingt uns zu neuer Kreativität, dank der wir schon viele erstaunliche neue Geschmackserlebnisse entwickelt haben.

Wie passen Blumenkohlstiele und Erbsenschalen in die Spitzenküche?

Ivić: Es passt alles, was von hervorragender Qualität ist. Wir müssen weg vom Schwarz-Weiß-Denken: Was ist Luxus? Was ist minderwertig? Alles, was von Demeter- oder Bioland-Betrieben kommt, ist purer Luxus, weil es giftfrei ist. Mit diesen Produkten muss man achtsam umgehen. Erbenschalen eignen sich zwar nicht für Fonds, doch man kann sie entsaften und die entsafteten Reste trocknen und anschließend pürieren. Man erhält somit ein feines Granulat mit leichter Zitrusnote, das man als Topping verwenden kann. So gelingt es, nicht nur fast alles von der Erbsenschote zu verwerten, sondern zusätzlich auch ein neues natürliches Aroma zu schaffen.

Verraten Sie uns ein weiteres Ergebnis Ihrer Experimentierfreude?

Ivić: Beispiel Morcheln: Die weniger ansehnlichen, aber aromatischen Pilze verarbeiten wir zu Morchel-Ketchup. Die Herstellung – einkochen, trocknen, wieder ansetzen – ist ein weitläufiger Prozess, aber das Ergebnis ist sensationell. Ein, zwei Kleckse davon zu einem Gericht heben den Geschmack ungemein. Solche Experimente machen wir häufig. Wenn wir das Ergebnis probieren und begeistert sind, macht uns das schon restlos glücklich.

Was ärgert Sie beim Kampf um mehr Nachhaltigkeit und weniger Abfall am meisten?

Ivić: Die Konsumgesellschaft verschwendet zwei Drittel aller erzeugten Lebensmittel und geht rücksichtslos mit der Natur um. Vieles, was Lebensmittelindustrie und Agrarwirtschaft entwickeln, ist nicht gesund. Allein der übermäßige Einsatz von Pestiziden, Antibiotika und Hormonen ist mehr als bedenklich. Mich ärgert, wenn Köche sich nicht mit den Zusammenhängen auseinandersetzen. Massentierhaltung vergiftet das Grundwasser mit Nitrat, und auch ein Bio-Lachs aus Aquakultur zerstört den Meeresboden. Diesen Kreislauf muss man stoppen.

Was sind die ersten Schritte, um Abfälle in der Profiküche zu vermeiden?

Ivić: Als erstes gilt es, das Angebot zu reduzieren, auf ein Maximum an Frische und Qualität zu setzen und nur das einzukaufen, was später auch verarbeitet wird. Wenn man sich den monetären Wert der Lebensmittelabfälle ausrechnet, schafft das Anreiz, etwas gegen die Verschwendung zu tun. Es hat mich schon immer geärgert, wenn Mitarbeiter hinter meinem Rücken Lebensmittel weggeworfen haben. Um ein Umdenken herbeizuführen, habe ich regelmäßig die Tonne kontrolliert, das noch Verwertbare wieder rausgeholt und damit ein Mittagessen fürs Team gekocht. Das Erstaunen, was man aus Resten alles machen kann, war stets groß. Von da an hielt sich jeder an die Regeln.

Müssen Sie heute immer noch die Abfallmengen kontrollieren?

Ivić: Wir wiegen sie sogar regelmäßig. Doch Abfallvermeidung beginnt beim Einkauf. Unser direkter Kontakt zu kleinen Erzeugern bedeutet frischere und damit länger lagerfähige Ware sowie viel weniger Plastik. So weit wie der Londoner Spitzenkoch Douglas McMaster gehen wir nicht. Er verzichtet in seinem Zero-Waste-Restaurant komplett auf Plastik, stellt Milchprodukte selbst her und kompostiert die Lebensmittelabfälle. Auch wir arbeiten derzeit mit unseren Produzenten an einer Kompostierlösung.

Was wünschen Sie sich für die Gastronomie der Zukunft?

Ivić: Vieles in der Spitzengastronomie gehört auf den Prüfstand. Nur ein Beispiel: Ist ein Lammrücken nur zum Rechteck geschnitten perfekt? Oder ist er nicht schon in seiner natürlich gewachsenen Form vollendet? Man muss dieses ja fast schon in Stein gemeißelte Qualitätsverständnis in der Spitzenküche hinterfragen; und zwar im gesamten System, inklusive Gourmetkritik und Medien. Wenn sich an der Spitze nichts ändert, wird sich auch in der Breite nichts ändern. Die Beispiele von Köchen wie Marco Müller in Berlin oder Norbert Niederkofler in Südtirol zeigen, dass man mit einer kompromisslos nachhaltigen und regionalen Küche sogar drei Michelin-Sterne bekommen kann.

Interview: Cornelia Liederbach
Fotos: Tian; Ingo Pertramer