Ghost Kitchens
Küchen ohne Restaurant
Die Kombination aus Dining-out und Dining-in ist ein Charakteristikum der Post-Corona-Normalität. Fachleute sind sich einig: Der Boom des Außer-Haus-Geschäfts könnte die Gastro-Landschaft auch in Deutschland auf Dauer massiv verändern
Die Corona-Pandemie und die diversen Lockdowns haben das erfolgreiche Geschäftsmodell „Restaurant“ in Frage gestellt. Quasi über Nacht, sprich im Lockdown, war Essen gehen nicht mehr möglich. Aber schon kurze Zeit später gingen die ersten Unternehmen mit Take-away-Konzepten an den Start, um ihre Küchen zumindest teilweise auszulasten und ihre Mitarbeitenden halten zu können. Einige Konzepte – auch in der gehobenen Gastronomie – waren derart erfolgreich, dass sie bis heute zum Repertoire der Unternehmen gehören. Trendforscher gehen davon aus, dass die Nachfrage nach Außer-Haus-Angeboten (Dining-out) jenseits von Pizza & Burger künftig zu einem der stärksten Wachstumsmärkte in der Gastronomie werden könnte. Kurz: Die Kombination aus Dining-out und Dining-in avanciert zu einem Charakteristikum der Post-Corona-Normalität, wobei jedoch die Qualität der Gerichte immer wichtiger wird.
Vorreiter USA
Beispiel USA: Dort war die Nachfrage nach Außer-Haus-Essen der gehobenen Gastronomie schon vor der Pandemie höher als hierzulande. Damit das Tagesgeschäft der Restaurants nicht durch die parallel laufenden Außer-Haus-Aktivitäten beeinträchtigt wurde, wurden schon vor Jahren separate Küchen eröffnet, über die ausschließlich der Dining-out-Markt bedient wurde. Unter den Protagonisten waren auch bekannte Sterneköche, die auf diese Weise ihre Restaurantküchen in den Metropolen entlasteten. Statt mitten im teuren Manhattan befinden sich die Ghost Kitchens beispielsweise in einem Gewerbegebiet in Brooklyn, wo die Mieten niedriger sind und die notwendige logistische Infrastruktur für die Auslieferung (z.B. Parkplätze, Zufahrt zu Schnellstraßen) wesentlich besser ist. Auch die immer komplexeren behördlichen Auflagen (u.a. Lärm, Emissionen, Feuerschutz, Abwasser, Mülllagerung) sind dort einfacher zu erfüllen als in Innenstadtlagen.
Die ersten Ghost Kitchen-Konzepte gehörten zunächst noch zu einem real existierenden Restaurant. Während der Corona-Pandemie entstanden auch in Deutschland die ersten Ghost Kitchens, die mehrere Brands für Speisen wie Pizza & Burger, Asia, Veggie und Gutbürgerlich unter einem Dach vereinen, aber als Restaurant nur noch virtuell existieren. Ein Erfolgsgeschichte aus Hamburg ist beispielsweise das Unternehmen Hungrig der drei Freunde Flemming Schwartz, Stephan Behrmann & Marcus Geßler. Ihre Ghost Kitchen vereint die vier Restaurant-Brands Roots (vegane Bowls und Burger), Umai (asiatisch), Jill (italienisch/ neapolitianisch) und Burgerbude (Burger, Pommes, Salate) unter einem Dach. Marcus Geßler hatte bereits in Münster ein erfolgreiches Ghost Kitchen-Konzept mit unterschiedlichsten Marken gegründet und konnte mit seiner Idee inzwischen neben Hamburg auch nach Aachen und Hamm expandieren.
Ghost Kitchen statt Kantine
Einen Schritt weiter gehen Matthias Schneider und Remo Gianfrancesco mit ihrem Konzept CloudEatery, das kürzlich in Frankfurt/Main an den Start ging. Auf einem virtuellen Marktplatz präsentiert CloudEatery Dutzende Gerichte seiner Brands Vegan Pirates (vegan), NokoNoko (fresh & healthy), Hey Liebling! (gutbürgerlich), Nonna Filomena (italienisch), Curry Tyga (asiatische Curries) und Lilly Krokant (Kuchen und Sweets). Der Kompromiss bei Gruppenbestellungen mit der unbeliebten Entscheidung für eine bestimmte Essensrichtung – Beispiel: Pizza oder asiatisch? – gehört somit der Vergangenheit an. Auch für die Verpflegung von Mitarbeitenden eines Unternehmens, das über keine eigene Kantine verfügt, eröffnen sich mit CloudEatery völlig neue Möglichkeiten.
Die beiden Unternehmensgründer haben ihr Konzept so ausgelegt, dass es die Nachteile herkömmlicher Lieferservices – monothematisches Angebot, Qualitätsverluste durch Transport, lange Lieferzeiten – zu seinen Stärken macht. In der Küche von CloudEatery sind sämtliche Prozesse digitalisiert – das schafft eine bislang in der Gastronomie nicht dagewesene Transparenz. Die Gerichte selbst sind so konzipiert, dass sie nach der Bestellung in wenigen Minuten gefinished werden und zur Auslieferung bereit sind. „Wir möchten Lieferessen schneller, besser, verlässlicher und nachhaltiger machen“, sagt Matthias Schneider, der u.a. als Direktor bei der LSG Group Lufthansa gearbeitet hat und sich bei CloudEatery jetzt um das Prozessmanagement sowie um Branding und Marketing kümmert. „Frankfurt als Business- und Lifestyle-Standort haben wir bewusst für den Pilot mit CloudEatery ausgewählt. Mittel- und langfristig zielen wir auf die nationale und europäische Dimension“. Alle zwei bis drei Monate sollen neue Standorte in weiteren Metropolregionen dazukommen. Gemeinsam mit internationalen Finanzinvestoren wird in den kommenden Monaten die Basis für den internationalen Roll-out gelegt.
Große Pläne für die Zukunft: das Team von CloudEatery mit den beiden Gründern Matthias Schneider und Remo Gianfrancesco
Qualität als Erfolgsfaktor
„Die Prozesse in der Küche sind so definiert, dass alle Speisen in der gleichen Zeit fertiggestellt werden können“, sagt Remo Gianfrancesco. „Wenn wir möchten, können wir innerhalb von sehr kurzerZeit einen weiteren Brand mit einem neuen Speisenangebot kreieren und innerhalb des CloudEatery-Angebots umsetzen.“ Remo Gianfrancesco stammt aus einer italienischen Gastronomie-Familie und hatte bei der Compass Group diverse leitende Positionen im Einkauf inne. Wie wichtig Qualität für den Erfolg einer Küche ist, weiß er auch aus seiner Zeit bei FrischeParadies in Frankfurt am Main.
CloudEatery verzichtet auf einen eigenen Fahrerpool und setzt für den Lieferservice auf die Partner Lieferando, Uber Eats, Eatura und Wolt. Dadurch stehen dem Unternehmen auch in Spitzenzeiten ausreichende Lieferkapazitäten und erfahrenes Personal zur Verfügung, während die eigenen Ressourcen für die schnelle Vor- und Zubereitung der Gerichte genutzt werden können. Eine weitere Besonderheit von CloudEatery gegenüber anderen Ghost Kitchen-Konzepten: Wer möchte, kann das Essen nicht nur selbst abholen, sondern auch in einem trendig gestylten Gastraum vor Ort genießen – eine Ghost Kitchen mit echtem Restaurant und Gästen.
Fine-Dining in Home-Boxen
Vom Dining-out-Trend profitiert auch das Berliner Unternehmen voilà, das Gourmetmenüs für zu Hause anbietet. Frisch zubereitet und kühlfrisch verpackt,werden die Home-Fine-Dining-Boxen direkt aus den Restaurants an die Privatadressen der Food Lovers versendet, wo das Wunschmenü mit nur wenigen Handgriffen fertiggestellt werden kann. Mit frischem Kapital in Höhe von zehn Millionen Dollar will das Start-up aktuell seinen Markteintritt in weitere europäische Länder vorantreiben. Die Finanzierungsrunde wurde von EQT Ventures angeführt, mit Beteiligung der bestehenden Investoren FoodLabs, Shio Capital und Angel-Investoren wie Roger Hassan (Ex-Hello Fresh). Das zusätzliche Kapital wird für die Expansion in Europa, die Erweiterung des Teams sowie Innovationen im Bereich Technologie verwendet. Über getvoila.com bietet das junge Unternehmen seinen Kunden unabhängig von ihrem jeweiligen Standort das Erlebnis außergewöhnlicher Menüs der besten Köchinnen und Köche in ganz Europa. Innerhalb von nur wenigen Monaten hat das Portal getvoila.com eine neue Erlebniskategorie für Essenslieferungen geschaffen.
Zu den Partnern gehören zum Beispiel das Cookies Cream (erstes vegetarisches Restaurant in Berlin), Sterneköche wie Daniel Gottschlich in Köln (Ox & Klee) oder Dominik Paul vom Opus V bei engelhorn Mode im Quadrat sowie lokale, authentische Food-Trendsetter und Vorreiter wie das Dim Sum Haus in Hamburg oder Ramen-Spezialist Food Technique in Berlin. Gegründet im Mai 2021 von den Freunden Julius Wiesenhütter (CEO), Florian Berg (COO) und Mostafa Nageeb (CPO), launchte voilà offiziell im vergangenen August nach einer Reihe von Testlieferungen. Zuvor hatte das Team bereits weitreichende Erfahrungen im Bereich F&B und Delivery gesammelt, etwa bei Branchengrößen wie Delivery Hero, Foodpanda, Foodora und Monitor Deloitte.
Text: Jörg-Michael Ehrlich
Fotos: Adobe Stock, Cloud Eatery
Frage & Antwort
„Der USP der Ghost Kitchens ist das System“
Jürgen Gärtner, Director Business Development & Consulting bei Edgar Fuchs Großküchentechnik und Objektausstattung, über Zukunft und Potenzial von Ghost Kitchens.
Sind Ghost Kitchens nicht in erster Linie etwas für den Bereich Fast Food, sprich Burger, Pizza, Pasta und Asiatisch?
Gärtner: Nein, obwohl die meisten den Begriff vorrangig mit Fast Food-Konzepten verbinden, gehe ich davon aus, dass dieses Thema Kreise in andere Verpflegungsbereiche ziehen wird – von der Mitarbeiterverpflegung über die Hotellerie bis hin zur Top-Gastronomie.
Während der Corona-Lockdowns erlebte das Liefergeschäft einen wahren Boom. Wird das Interesse an geliefertem Essen mit Abklingen der Pandemie nicht ebenfalls nachlassen?
Gärtner: Nein, das denke ich nicht. Die Gastronomie, wie wir sie vor der Pandemie kannten, wird es in naher Zukunft nicht wieder geben. Fachleute rechnen damit, dass uns das Thema Corona unter Umständen noch ein Jahrzehnt beschäftigen wird. Daher werden die Menschen weiterhin vorsichtig bleiben, wenn beispielsweise die Inzidenzen in der kalten Jahreszeit wieder steigen. Ich bin sicher: Der Wunsch nach geliefertem Essen wird präsent bleiben und als Markt an Bedeutung deutlich zunehmen.
Die Corona-Krise hat also deutlich Bewegung in eine zum Teil eingefahrene Branche gebracht?
Gärtner: Es fällt stets schwer, alte Zöpfe abzuschneiden, aber Not macht erfinderisch. Die Pandemie hat dazu geführt, dass u.a. über Themen wie entkoppelte, zentrale Produktionsstätten – modern: Ghost Kitchen – nachgedacht wird. Endlich wird über Neues diskutiert, auch über die Wünsche und Erwartungen der kommenden Generationen, die ein völlig anderes Konsum- und Essverhalten haben als ihre Eltern. Ihre Lebensmuster lassen sich mit den klassischen Geschäftsmodellen nur noch mittelmäßig oder zukünftig gar nicht mehr bedienen.
Was spricht für den Bau von Ghost Kitchens?
Gärtner: Jedes Küchenprojekt ist mit hohen Investitionen verbunden. Auch die behördlichen Auflagen werden immer umfangreicher. Daher wird es künftig Sinn machen, so wenig Küche wie möglich zu bauen, Produktionseinheiten zu bündeln und multifunktional nutzbar zu machen. Multifunktional auch in Sinne von Anpassungsfähigkeit auf Trends von morgen. In vielen Fällen wird man die Kosten gegenüber einer Unternehmenseinheit, der die Küche dienen soll, nicht mehr rechtfertigen können. Und da schlagen nicht nur die Investitionen zu Buche, sondern auch die in vielen Regionen überproportional steigenden realen oder kalkulatorischen Mietkosten, die eine solche Einheit ja neben allen anderen Betriebskosten erwirtschaften muss. Daher führt der planerische Weg immer öfter zu einer Konzentration der Produktion, die dann auch Auswirkungen auf Investition und Kosten hat.
Welche Rolle spielt der eklatante Fachkräftemangel bei dieser Entwicklung?
Gärtner: Das ist ein ganz entscheidender Aspekt: In einer Ghost Kitchen können mit weniger Mitarbeitenden mehr Gerichte produziert werden als in einer klassischen Küche. Durch die Optimierung von Prozessen und den Einsatz von Produktionsverfahren wie Cook & Chill oder Sous-vide kann zudem antizyklisch produziert werden. Daraus eröffnet sich die Möglichkeit völlig neuer Arbeitszeitmodelle, die die Attraktivität des Kochberufs wieder erhöhen. Auch das Image ändert sich – weg vom klassischen, dauergestressten Koch am Herd hin zu einem jugendlichen, frischen, managementorientierten und IT-lastigen Berufsbild mit attraktiven Arbeitszeiten und deutlich besseren Verdienstmöglichkeiten. Auch das Heranführen von Quereinsteigern wird in systematisierten Produktionen wesentlich erleichtert.
Sind Ghost Kitchens auch für die gehobene Gastronomie oder sogar Sternerestaurants denkbar?
Gärtner: Warum nicht? Das Unternehmen Voilà beispielsweise, das in der Pandemie für zahlreiche Sterneköche die Logistik fürs Boxen-Geschäft managte, konnte vor kurzem bei Investoren zehn Millionen US-Dollar einsammeln, um das Geschäft europaweit auszubauen. Ein weiterer logischer Schritt könnte dabei der Bau von Ghost Kitchens sein, in denen die Gerichte mehrerer Sterneköche nach deren Rezepten produziert und versendet werden. Auch die Hotellerie wäre ein hochspannender Kunde. Wenn sie eine ansprechende Verpflegung ohne hohen Eigenaufwand anbieten könnten, wäre vielen Hotels geholfen. Sie könnten sich noch besser auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, während die Ghost Kitchen für das Essen sorgt.
Sehen Sie weitere Potentiale für Ghost Kitchens?
Gärtner: Vor allem in den Metropolregionen gibt es viele Unternehmen, die keine Verpflegungsangebote für ihre Mitarbeitenden haben. Stattdessen liefern unterschiedlichste Anbieter zur Mittagszeit ihr Essen ins Bürogebäude. Mit einem Ghost Kitchen-Konzept, das Food-Konzepte unter einem Dach vereint, ließe sich die Versorgung vereinfachen: ein Point of Sale, ein Kurierdienst, ein Bestell- und Abrechnungssystem.
Worin besteht für Sie als planendes Unternehmen die Herausforderung bei der Realisierung von Ghost Kitchens?
Gärtner: Im Prinzip ist das Thema „Ghost Kitchen“ für uns nicht völlig neu, denn es gibt sie ja unter dem Begriff „Zentralküche“ bereits seit Jahrzehnten, nur dass dort nach klassischen Mustern gearbeitet wurde. Der Begriff „Ghost Kitchen“ klingt hip und modern, während das Wort „Zentralküche“ schon eher an Krankenhausessen, Speisenverteilsysteme und Massenproduktion auf der „grünen Wiese“ denken lässt. Doch die planerischen Herausforderungen ähneln sich. Im Grunde liegt die Aufgabe darin, eine Vielzahl von „Manufakturen“ unter einem Dach zu vereinen, ohne individuelle Produktionsbereiche zu schaffen. Der USP der Ghost Kitchen ist das System.
Besteht die Gefahr, dass Ghost Kitchen nicht als authentische Restaurants, sondern quasi als künstliche Brands wahrgenommen werden?
Gärtner: Kunden erwarten eine individuelle Gastronomie, in denen ihr Essen frisch zubereitet wird. Aber auch hier ist es wie im richtigen Leben: Die Verpackung zählt. Daher ist es wichtig, dass jede Ghost Kitchen eine gute Story hat. Der Kunde darf nie das Gefühl haben, dass alles aus einem Topf kommt. Am Ende beurteilt der Gast das, was er auf dem Teller hat. Wenn seine Erwartungen erfüllt oder übertroffen werden, haben die Beteiligten alles richtig gemacht.
Interview: Jörg-Michael Ehrlich
Foto: Edgar Fuchs